Selbsterfahrung

Weniger ist mehr – So geht loslassen!

MEIN NAME IST CHRISTINE, UND
ICH BIN EIN ÜBERFLUSSJUNKIE. In
meinem Bad gibt es Tuben, die ich seit Jahren
nicht angefasst habe. Ich kenne nicht alle meine
Facebook-Freunde. Ich führe pro Tag einen
unsinnigen Chat auf dem Smartphone. Und
natürlich arbeite ich zu viel. Dabei habe ich oft
das Gefühl, es reicht nicht. Ich hätte wirklich
gern mehr Platz für das Wesentliche und würde
gern mehr Gutes in der Welt bewirken. Aber
geht das? Weg mit allem, was mich belastet!
Her mit dem bewussten Simplify-Leben! Einfach
loszulassen und alles anders zu machen
empfinde ich als schwer.
Deshalb schließe ich mich einer Art Selbsthilfegruppe
an, einem Stammtisch der Minimalisten
in meinem Bekanntenkreis. Die acht
Frauen und Männer in den Dreißigern beschäftigt
auch, dass bei allem Überfluss immer die
wichtigen Dinge zu kurz kommen. Wir fragen
uns: Wie kann ich mein Leben entrümpeln? Weniger
grübeln, weniger Zeit verschwenden, weniger
Besitz verwalten und mehr Sinnvolles tun?
Wir tauschen uns ehrlich darüber aus und geben
einander Hausaufgaben wie: das Badezimmer!
Dazu gehört nicht nur, auszumisten, sondern
auch, selbstkritisch zu hinterfragen: Wie viel Zeit
verbringe ich hier? Wie kann ich eine schlichtere
Routine finden? Vielleicht reicht auch Kokosöl
zum Eincremen für den ganzen Körper?
Minimalismus ist ein Trend. In den USA
ziehen Menschen gerade aus ihren geräumigen
Anwesen in Minibuden. Das hat schon Ehen
gerettet! Weniger zu besitzen heißt auch, sich
um weniger kümmern zu müssen. Oft geht es
darum, weniger zu arbeiten, um mehr Zeit für
seine Herzensprojekte zu haben. Und nicht zuletzt
wird es vielen Menschen immer wichtiger,
die Welt durch bewussten Konsumverzicht und
nachhaltiges Wirtschaften zu bereichern. Zu
teilen, zu spenden, niemanden auszubeuten.
Nach mehreren Gruppentreffen erkenne ich,
dass ich zunächst in meinem Alltag Inventur
machen muss: von Versicherungen über Klamotten
bis hin zu ungelösten Konflikten oder
unerfüllten Träumen. Dann gilt es, Überflüssiges
auszumisten, danach neue Gewohnheiten zu
etablieren, beispielsweise nur noch regional
angebautes Gemüse zu kaufen oder für jedes
neue Kleidungsstück ein altes wegzugeben.
Hilfe hole ich mir von meiner Freundin Anne, die
ihren minimalistisch geschulten Blick durch
meine gut aufgeräumte Wohnung schweifen
lässt – und mich dabei mit bohrenden Fragen
bombardiert: „Wann hast du das letzte Mal in
das Buch dort geschaut? Was lagerst du in dem
Schrank da hinten?“ Ich bin nun wirklich alles
andere als ein Messie, aber plötzlich kommt es
mir doch so vor, als ob ich mich mit meinem
Besitz selbst belaste und blockiere. Tatsächlich
finden wir unter meinem Bett eine lange vergessene
Kiste mit Fotos und Briefen von längst
Verflossenen. Meine Freundin schaut mich verschwörerisch
an und sagt: „Wenn du dich
von allem trennst, was du nicht mehr brauchst,
werden ganz viele tolle Dinge in deinem Leben
passieren.“ Das motiviert mich!
Ich will keine Vollzeitminimalistin werden,
weil ich kein radikaler Typ bin. Aber Schritt
für Schritt Ballast abstoßen, das gefällt mir. Es
reicht schon, sich jeden Tag fünf Minuten lang
in seinem persönlichen Umfeld umzuschauen
und dabei zu fragen: Was könnte ich verschenken?
Und vor jeder potenziellen Neuanschaffung
werde ich mir ab sofort die Frage stellen:
Brauche ich das, macht mich das glücklich, will
ich das wirklich? Dabei geht es nicht nur um
das zehnte Paar Schuhe, sondern auch um
neue Bekanntschaften, den dritten Gin Tonic
am Abend, eine weitere App fürs Smartphone,
das nächste aufregende Projekt. Ich prüfe
künftig bei Einladungen zu Facebook-Events:
Muss das sein, oder wäre ein Spaziergang in
der Natur bereichernder? Sich derart in die
Pflicht zu nehmen ist emotional aufwühlend,
auch beängstigend. Wenn man so viel loslässt
und ändert, fragt man sich: Wer bin ich eigentlich
noch? Die neue Leere auszuhalten ist spannend.
Ich habe jetzt schon gefühlt mehr Zeit,
mehr erfüllende Momente, mehr Überraschungen,
letztlich auch mehr Geld und mehr Freiheit.
Ich dachte immer, Minimalismus bedeutet Verzicht
und Einschränkung. Dabei geht es ja um
jede Menge Reichtum. Die neue Leere darf sich
jetzt mit ganz viel Schönem füllen!

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