Jedes Land hält dem Reisenden einen Spiegel vor. Anderer Ort, anderes Gefühl. Auf Island begegnet man dem natürlichen Ich, es entsteht Weite im Herzen und Nähe zur Natur, in New York sagt man Hallo zum „Shopping-Ich“ und bekommt Lust auf ein Leben auf High Heels und in Neuseeland erwacht das „Trekking-Ich“. Ja, und in Nepal fühlt sich das „spirituelle Ich“ besonders wohl. Warum?
1. Gelassenheit, wirklich
Auf den Straßen von Kathmandu staut es sich, wegen der Abgase kann man kaum atmen und viele Menschen kämpfen jeden Tag aufs Neue um ein Einkommen. Doch schaut man in die Gesichter der Menschen, dann sind sie nicht so ergraut wie bei den Büromenschen in der Hamburger U-Bahn. Sie strahlen tiefen Frieden aus. Klingt nach Sozial-Kitsch? Vielleicht. Aber man spürt es ja selber nach ein paar Tagen: Ein Hupen kann einen nicht mehr aufschrecken, die Straßenhunde nicht mehr ängstigen und das Leben nicht mehr schocken: Was soll einem eigentlich passieren im Leben?
2. Der andere Blick
Als ich einen Mönch im Kloster in Kathmandu fragte: „Warum sind so viele Menschen im Westen unglücklich?“, lachte er erst glucksend auf und dann fing er an zu erzählen: „Ihr seid zu sehr Individualisten. Euer Ego ist dadurch kaum noch zu bändigen und ihr verliert den Bezug zur Gemeinschaft.“ Mhm. Und dann fügte er noch hinzu: „Stimmt es, dass viele von Euch den ganzen Tag in diesen hohen Gebäuden ohne Fenster und mit künstlichem Licht sitzen und sogar länger arbeiten, als sie müssen. Und nie raus gehen.“ Ja, stimmt, teilweise. So gesehen: Ist das Streben nach Selbstentfaltung eigentlich eine Ego-Falle?
3. Für andere da sein
Sinnsuche kann schnell zu einem Egotrip werden: Ich will Erfahrungen machen, ich will ein besseres Leben, ich will endlich diese nervigen Gedanken los werden. Ich, ich, ich. Aber was macht eigentlich Sinn? Eben! Wenn man die ganzen Erfahrungen macht, um sie an andere weiter zu geben und sowieso: Andere unterstützen. Selten habe ich in einem Land so hilfsbereite und selbstlose Menschen getroffen. Ein Beispiel: Auf einer Wanderung in den Bergen gab es einfach nirgends Hinweisschilder. Aber das brauchte es auch nicht. Kam ich vom Weg ab, war gleich ein Einheimischer da, rannte mir nach und zeigte mir die richtige Route. Wenn man im Kloster meditiert oder studiert hatte, dann gehörte es wie selbstverständlich dazu, dass man gleich jegliche Erkenntnis „spendet“. Also, man sollte sich direkt vorstellen, wie man seine Erfahrung mit allen Menschen teilt und insbesondere mit denen, die es gerade besonders nötig haben. Was könnte mehr Sinn machen, als weiter zu geben?
4. Sich selber nicht so wichtig nehmen
Ich habe Hunger auf alles außer Reis mit Curry, ich will jetzt eine weiche Matratze, ich will eine Heizung. In Nepal begegnet man ab und zu dem Jammer-Luxus-Ich. Auch als Abenteurerin schlottert man bei 10 Grad Zimmertemperatur in zwei Schlafsäcken und wenn die Dusche dann noch kalt bleibt, steigt das Selbstmitleid. Und, hey, solche Momente hat selbst der bescheidenste Rucksack-Reisende. Erzählt man einem Einheimischen davon und auch, dass man jetzt heute mal nicht Curry essen mag, dann lachen sie nur. Ja, lächerlich! Wie wir getrimmt sind, uns um unsere Bedürfnisse zu kümmern, unsere individuellen Gewohnheiten zu pflegen. Ist das wirklich wichtig?
5. Ins Leben vertrauen
Pläne? Strategien? Termine? Dates? Meetings? Die Frage ist, wer die eigentlich wann braucht? Die schönsten Momente meiner Reise waren völlig ungeplant: Ein Spaziergang mit einem Mönch von Kloster zu Kloster. Ein warmer Apfel-Hafer-Brei zum Sonnenaufgang. Ein Affe vorm Fenster. Eine Café-Bekanntschaft, die einem eine Praline schenkt. Flow-Momente, die aus der gelassenen Zufriedenheit eines Tages entstehen, der völlig offen beginnt und inspiriert endet. Wenn man doch im Inneren auf festem Boden steht, können einem die Wellen des Tages nicht mehr umnieten. Und alles ändert sich ständig, warum noch steuern? Warum machen wir überhaupt Pläne?
Am 25. April wurde Nepal von einem Erdbeben getroffen. Fassunglos und voller Mitgefühl denke ich an die Menschen und an das Land, das mir so viel gegeben hat. Om mani padme hum – das ist ein bekanntes Mantra, das man jetzt rezitieren kann. Was man jetzt tun kann, außer Mitgefühl entwickeln? Geld spenden (z.B. über Care: www.care.de)! Und trotzdem hinreisen, wenn es wieder möglich ist.